Weshalb Gravelbikes einen solch enormen Aufschwung nehmen, hat verschiedene Gründe. Einer davon: Es eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten der Routenwahl. Wir haben auf den alten Militärstrassen im Piemont zwei Touren getestet, die das Gravelbiken nochmals in eine ganz andere Dimension heben.

Zugegeben: In der Schweiz herrschen perfekte Bedingungen für Gravelbikes. Unendlich viele Kies- und Waldwege – in super Zustand – locken nach draussen. Trotzdem kann es sich lohnen, auch mal ins nahe Ausland zu schielen. Insbesondere das Piemont und die angrenzenden Gebiete bestechen mit Gravel-Strassen der Superlative, wie wir selber erfahren konnten.

Konkret: Mitte Oktober haben wir zwei der wohl spektakulärsten Graveltouren in Europa selber getestet. Diese können hierzulande sicherlich noch als Geheimtipp bezeichnet werden.

Colle delle Finestre und Strada Assietta

87km, 2800 HM (GPX-Download weiter unten im Serviceteil)

Die erste Tour startet von Susa, nahe Turin. Auf knapp unter 500 Meter über Meer geht es direkt rein in einen der längsten Pässe in den Alpen: Colle delle Finestre. Kommt dir irgendwie bekannt vor? Richtig: Hier hat Christopher Froome in der legendären 19. Etappe des Giro 2018 zu seiner 80km-Soloflucht angesetzt und dadurch den Giro noch zu seinen Gunsten gekehrt. Die letzten ca. 9 Kilometer des Passes sind Schotterstrasse, die mittlerweile schon wieder etwas rauer daherkommt als noch bei der letzten Giro-Durchfahrt. Der grosse Vorteil: Kaum Töff- und noch weniger Autoverkehr. Wir haben Mitte Oktober den Pass ganz für uns alleine.

Colle delle Finestre: knapp 1’700 Höhenmeter, ein (unscheinbares) Monument

Mit regelmässigen rund 10 Steigungsprozenten geht es knapp 1’700 Höhenmeter hoch. Nach der Passhöhe auf 2178 M.ü.M. geht es kurz auf Asphalt runter, um dann gleich wieder auf die nächste Schotterstrasse einzubiegen: Die Strada Assietta. Wie viele andere alte Militärstrassen führt sie gut ausgebaut, auf teilweise sehr gutem, dann wieder etwas tiefem Untergrund kilometerweit dem Berg entlang hoch und runter, über diverse kleine Passübergänge und vorbei an alten (teilweise uralten) Befestigungsanlagen (Fun Fact: Unter dem Colle delle Finestre befindet sich bei Fenestrelle die nach der chinesischen Mauer zweitgrösste militärische Befestigungsanlage der Welt, erbaut im 18. und 19. Jahrhundert. Diese haben wir links liegen gelassen, sie könnte aber easy in die Tour eingebaut werden).

Strada Assietta: Es könnte unendlich so weitergehen


Auf der Strada Assietta ist das Gravelbike in seinem Element. Im Oktober praktisch verkehrsfrei, fährt es sich im stetigen Hoch und Runter angenehm und landschaftlich spektakulär hoch über dem Tal und stets über der Baumgrenze fast unendlich weit dahin. Beliebt sind diese Strassen allerdings auch bei motorisierten Offroad-Fans (Jeeps, geländegängige Töffs). Doch zumindest im Herbst kommt man sehr gut aneinander vorbei, wenn es denn überhaupt mal zu einer Begegnung kommt. Im Sommer dürfte aber deutlich mehr los sein.

Unsere Tour endet mit einer langen Abfahrt in den Skiort Sauze d’Oulx und dann das Tal hinunter nach Susa. Eine Tour, die so nur mit dem Gravelbike fahrbar ist und somit zumindest für alle RennvelofahrerInnen ganz neue Perspektiven bietet. Wir waren auch lange nach der Tour noch ganz geflasht von allen Eindrücken.

Alta Via del Sale

86km, 2’200 HM (GPX-Download weiter unten im Serviceteil)

Am zweiten Tag starten wir von Limone Piemonte (zwei Autofahrstunden von Susa entfernt). Beziehungsweise oberhalb des Skiortes beim Chalet Marmotte. Wir schenken uns damit einige hundert Höhenmeter auf Asphalt und rund eine Stunde Fahrzeit. Nur wenige Kilometer von hier beginnt die wohl spektakulärste Gravel-Strecke in den Alpen: Die Alta Via del Sale. Hier haben auch motorisierte Fahrzeuge (beschränkten) Zutritt. Zwei Tage pro Woche ist die Strasse aber für Velos reserviert. Wir erwischen einen dieser Tage und wir haben tatsächlich die gesamte Strecke für uns alleine.

Alta Via del Sale: Die berühmte Kurve „Boaria“ von der Passhöhe in Fahrtrichtung aus gesehen.

Nach dem Gate (wo bis Oktober pro Velo ein symbolischer Euro Eintritt bezahlt werden muss und der Autozugang kontrolliert wird) windet sich die Via Alta zuerst auf wunderbarer Naturstrasse höher und höher. Bis sich kurz vor der ersten Passhöhe der Untergrund ändert: Grober Schotter dominiert ab hier den weiteren Weg. Mit dem Gravelbike ziemlich ruppig zu fahren, Konzentration ist angesagt. Und gute Schulter-/Nachenmuskulatur braucht es auch. Aber es lohnt sich. Denn kurz nach der ersten Passhöhe öffnet sich der Hang und gibt den Blick frei auf die spektakulärste Passage der ganzen Tour: Die berühmte Haarnadelkurve „Boaria“ scheint über dem Tal zu schweben. Unglaublich, was für eine Szenerie! Es verschlägt uns fast den Atem. Nach einer ausgiebigen Fotosession geht es weiter im groben (blendend weissen) Schotter, ein stetiges Hoch und Runter, das vollste Konzentration erfordert.

Bald verlangt der Untergrund volle Konzentration

Es folgen weitere Anstiege und Abfahrten bis wir auf dem Passo del Tanarello angekommen sind. Hier folgt eine sehr ruppige Abfahrt, gefolgt von genauso ruppigen Gegenanstiegen.

Aufstieg zum Passo del Tanarello

Langsam fährt die ewige Schüttlerei ein, die Arme und Schultern sind schwer gefordert, auch die Konzentrationsfähigkeit ist in jeder Sekunde gefragt.

Doch der Aufwand lohnt sich, diese Graveltour ist zu spektakulär, um überhaupt nur schon über irgendeinen Schmerz nachzudenken Schliesslich erreichen wir im Tal den kleinen französischen Ort „La Brigue“, wo wir (endlich) etwas zu trinken finden. Die Route führt uns über den Col de Tende zurück nach Limone. Der Tende-Pass ist aufgrund eines Erdrutsches noch bis 2024 für den Verkehr gesperrt (respektive die Zufahrt zum Autotunnel nach ca. einem Drittel des Anstieges) und wir schrauben uns deshalb, von wenig lokalem Verkehr abgesehen, absolut alleine die 46 (die Italiener behaupten, es seien 50) Haarnadelkurven hoch auf den Pass. Die letzten Kilometer fahren wir wiederum auf Schotter.

46 oder 50 Haarnadelkurven? Egal, der Col de Tende ist so oder so ein Highlight

Dieser Pass alleine wäre die Tour schon wert. Der Tende gilt als südlichster Alpenpass und die 46 (50?) Haarnadelkurven sind einfach nur spektakulär, wir können uns kaum sattsehen. Nach dem langen Anstieg wartet auf der Passhöhe mit dem „Fort Col de Tende“ ein letztes Highlight auf uns. Nach einem supersonnigen Tag ist Nebel aufgezogen und wir können uns an der alten Befestigung kaum satt sehen. Was für eine filmreife Kulisse!

Die Festung auf dem Col de Tende lädt zum „Spielen“ ein

Fazit: Gravelbiken Next Level

Fazit der beiden Tage: Ein Ausflug auf die alten piemonteser und französischen Militärstrassen lohnt sich. Eine extrem spektakuläre Kulisse trifft auf anspruchsvolle Gravel-Abschnitte, die bei richtiger Planung praktisch verkehrsfrei befahrbar sind. Zudem bewegt man sich in einer geschichtsträchtigen Gegend, die Landschaft ist ein einmaliger Mix aus Steinwüste, Alpen und einem Schuss Provence südlich des Col de Tende. Kurz: ein Geheimtipp aber eigentlich auch ein Must für alle GravelerInnen und sicherlich ein lohnendes Ziel für eine künftige Challenge.

Serviceteil: Nützliche Informationen

Download GPX-Dateien:


Route 1 (Finestre, Assietta)
Route 2 (Alta Via del Sale)

Unterkunft:

Hotelempfehlungen:
Susa: Hotel Napoleon. Grosser abschliessbarer Velokeller inkl. Waschmöglichkeiten, Standpumpe, Werkzeug. Mitten im Zentrum, nahe bei Restaurants und Lebensmittelgeschäften.
Limone Piemonte: Hotel Edelweiss. Lobby und Restaurant im Alpenchic-Stil, grosszügige Zimmer, sehr gutes (!) Restaurant, gemütliche Bar, am Anstieg zum Tende-Pass gelegen und somit der ideale Ausgangspunkt für die Alta Via del Sale. Abschliessbarer Velokeller in der hoteleigenen Tiefgarage sowie Waschmöglichkeiten für das Velo.

Ausrüstung/Verpflegung:

Für die Route 1 ist ein normal bereiftes Gravelbike perfekt. Auf der Alta Via del Sale herrscht ein etwas rauerer Strassenbelag vor, weshalb wir um 44-mm-Pneu (mit 2,2 Bar Luftdruck) nicht unglücklich waren. Es schlägt trotzdem noch ziemlich stark in den Abfahrten, also auf einen anstrengenden Tag für Schultern/Arme/Nacken/Handgelenke einstellen.
Die Verpflegung ist insofern eine Challenge, als unterwegs nicht sehr viele Nachtankmöglichkeiten vorhanden sind. Am Colle delle Finestre gibt es einen Brunnen an der Stelle, an der die Schotterstrasse beginnt. Da unbedingt nochmals trinken und Bidons auffüllen (sicherlich mit mindestens 2 Bidons unterwegs sein, eventuell Camelbak). Danach inklusive der ganzen Strada Assietta keine Nachfüllmöglichkeiten mehr, erst unten im Tal wieder. Ähnlich sieht es bei der Alta Via del Sale aus. Nach dem Chalet Marmotte gibt es nochmals eine Alphütte mit Restaurantbetrieb (Rifugio Don Barbera), da unbedingt nachtanken. Denn danach gibt es bis La Brigue oder sogar Tende keine Möglichkeiten mehr, einzukehren. Das sind doch gute 2.30- 3 Stunden Fahrzeit.

Blogbeitrag bei Castelli: Über dieselbe Tour hat Dani Hofstetter einen sehr lesenswerten Beitrag auf dem Blog von Castelli veröffentlicht: BLOG CASTELLI

Unsere Gravelbikes

Bei Tempo Sport haben wir viel Erfahrung mit Gravelbikes. Wir führen die Marken Cannondale, Cervélo, Scott und Argon 18. Alle bieten verschiedene Gravelmodelle (Bio oder E-Bike). Wir beraten dich sehr gerne.

Alle aktuell verfügbaren (Gravel-)Bikes bei Tempo Sport findest du HIER.

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Marcel Kamm

Autor

Mitinhaber, Geschäftsführer. Verantwortlich für Kommunikation, Trainingsplanung, Seminare. Marcel kümmert sich um alle Belange der Kommunikation, Positionierung, Strategie und Geschäftsentwicklung. Zudem betreut er als erfahrener Coach Athletinnen und Athleten aus Triathlon, Lauf- und Radsport.

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